Zum Begriff der affektiven Psychosen

 (Kurzfassung eines Vortrages, gehalten an der Psychiatrischen Klinik St. Urban 2014)

 

Insbesondere die Unterscheidung zwischen einer Manie mit psychotischen Symptomen und einer schizomanischen Störung bereitet Schwierigkeiten, jedenfalls wenn der Patient mit voller Symptomausprägung vor einem steht und man ihn nicht kennt. Phänomenologisch kann es folgendermassen auseinandergehalten werden:  bei der Manie mit psychotischen Symptomen muss zuerst die affektive Störung eingesetzt haben, bei der schizomanischen Entgleisung kommen die affektiven und die psychotischen Symptome mehr oder weniger gleichzeitig, wobei der  Begriff "oszillierend" vielleicht noch etwas präziser ist.

 

Weiter ist der Wahn bei der bipolaren Störung immer sehr affektkongruent, oder vielleicht einprägsamer gesagt: der Wahn untermalt und illustriert die affektive Gestimmtheit. Bei Wahnsymptomen im Rahmen einer primär depressiven Störung, also vor allem nihilistisch oder dann schuldhaft, bei Psychose im Rahmen einer primär manischen Erkrankung vor allem grössenwahnsinnig. Natürlich können auch diese Produktionen ganz ordentlich bizarr werden, aber irgendwie bleibt es doch eher im Rahmen des Verstehbaren, wenn zum Beispiel eine schwer depressive Patientin die wahnhafte Überzeugung gewinnt, dass ihr alles Blut abgezapft wurde, oder dass sie gar nicht mehr am leben sei. Oder der Maniker, der vor dem weissen Haus verhaftet wurde, weil er über den Zaun geklettert ist, da er doch Herrn Obama unbedingt die Lösung des CO2-Problems erklären muss, die er vorgestern Nacht entwickelt hat, oder die im meinetwegen auch von Gott persönlich eingegeben wurde.

 

Auf eine gewisse Art sind diese Wahnproduktionen auch immer irgendwie bezogen; Herr Obama muss nun aufgesucht und informiert werden. Ein schizophrener Patient würde solche Durchbrüche in der Umwelttechnik, die er meint erziehlt zu haben, doch tendenziell eher mal für sich behalten und nicht vor dem weissen Haus verhaftet werden, sondern eher bei sich zu Hause, weil bei der Inbetriebnahme der von ihm entwickelten segensreichen Konstruktion das Haus in Brand geraten ist. Ein schizophrenieformer Wahn ist eigentlich immer Privatsache und will nicht geteilt und insgeheim auch keinesfalls verstanden werden.

 

Auch der depressiv-nihilistische Wahn nimmt meines Erachtens ein Beziehungsthema auf, indem er beispielsweise in der Ausprägung der Überzeugung schon tot zu sein, im Grunde die Unmöglichkeit einer Beziehungsaufnahme zum Thema hat. Und Schuldwahn ist per se eine Beziehungsthematik par excellence.

 

Man könnte sagen, dass die psychotische Produktion eines primär affektiv Erkrankten aus dem Affekt geboren ist. Und da der Affekt aus psychodynamischer Sicht vor allem eine Beziehung zum Grund hat bleibt auch der Wahn in diesen Gefilden.

 

Freud hat die psychodynamische Grundlage der affektiven Störungen in seiner berühmten Schrift Trauer und Melancholie recht gültig herausgearbeitet. Im Gegensatz zum Trauernden, ist das verlorene Objekt für den Melancholischen, heute würde man sagen Depressiven, ein narzisstisches Objekt gewesen. Aber immerhin ein leidlich getrenntes Objekt, auch wenn es für die Selbstwertregulation dringend gebraucht wurde. Deswegen bedeutet der Objektverlust für den Trauernden "nur" den Verlust eines Teiles der Welt, während es für den Depressiven eine Herabminderund des Selbstwertes bedeutet. Und auch der Selbstwert ist im Grunde eine Beziehungsfrage und von Beziehungen losgelöst meines Erachtens nicht zu denken.

 

Es geht also bei affektiven Störungen um den Verlust der narzisstischen Integrität bzw. wie im Fall der Manie um die Abwehr dieses Verlustes mit Hilfe der Verschmelzung mit dem Ichideal, was per se ein grandioser Akt ist, und nicht bloss um den Verlust eines Objektes in der äusseren Welt wie beim Trauernden.

 

Es kann neben bei gesagt im klinischen Alltag übrigens durchaus Schwierigkeiten bereiten, eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung von einer akuten Manie zu unterscheiden, wenigstens prima vista, ohne anamnestische Kenntnisse der Person.

 

Ganz anders gestaltet als der depressive oder manische Wahn, erscheint die schizophrenieforme Psychotizität.

Die Produkte schizophrenen Wahns sind in aller Regel weit bizarrer. Die Patienten wirken in ihrem Wahn unbezogen und verrätselt.

 

Das schizophrene Thema oder Dilemma, welches diesen Wahnformationen zugrunde liegt ist keine Problematik im Selbstwert sondern betrifft das Selbst als solches. Die Kategorien sind wesentlich fundamentaler, spielen Entlang der Achse Identität versus Fusion und kreisen um die Katastrophe der Fragmentierung und des Selbstverlustes.

Es ist nicht der Wert, welcher bedroht ist, sondern das Selbst an sich, in seiner Integrität und Kohärenz.

Der schizophrenieforme Wahn ist eine Abwehrformation im engsten Sinne, gegen den Zerfall der Identität, des Selbst, wie immer man das nennen mag, dieses "Ganzsein" das Voraussetzung dafür ist, dass es ein Innen und ein Aussen gibt und es einigermassen klar ist wo die Grenze liegt und dafür sorgt, dass morgen nicht einfach alles anders ist als gestern.

 

Auch die halluzinatorische Symptomatik ist in diesem Zusammenhang als eine Art "Fragmentierungsantidot" zu sehen: indem jemand zu mir spricht, empfinde ich mich als getrennte Einheit, an die man sich wenden kann. Die Deutung, dass es keine reale Stimme ist, sondern es aus einem selbst zu einem spricht stösst ja bei den Patienten auf erhebliche Wiederstände. Nicht ohne Grund, so betrachtet.

 

Während bei einer ausreichenden Fähigkeit zur Unterscheidung von Selbst-und Objektrepräsentanzen die Annäherung an eine andere Person Liebesgefühle auslösen kann und die Trennung zu Trauerreaktion führt, oder es wie schon geschildert bei etwas unschärferer  Trennung zwischen Selbst-und Objektrepräsentanzen zu depressiven Reaktionen kommt, führen bei schizophrenen Patienten intensive Beziehungserfahrungen zu weit tiefergehenden und schwierigeren Problematiken. Die Reaktionslagen befinden sich auf der archaischen, ungetrennten Ebene der Fusionswünsche respektive des veritablen Verlustes des Selbst an sich. Dieser drohenden  Fragmentierung des Selbst, wird der Wahn als kohäsiver Abwehrmechanismus entgegengesetzt.

 

Im Gegensatz dazu ist das affektive Dillema entlang der Achse von Selbstwertigkeit und Objektwertigkeit angesiedelt. Es kann depressiv im Sinne einer Unterwerfung, oder eben manisch im Sinne einer Überblähung des Grössenselbst gelöst werden, am jeweiligen Ende auch mit entsprechenden psychotischen Produktionen, die aber keinen Abwehrcharakter haben, sondern letztlich die Realität zum Affekt quasi "hinbiegen" sollen.

Ab einem gewissen Ausmass von manischem Erleben gibt es die Realität halt wirklich "nicht mehr her", also muss sie eben mit psychotischen Mechanismen etwas kongruent gemacht werden.

 

Nun stellt sich die Frage, wie es sich denn mit den sogenannten schizoaffektiven Störungen  verhält.

 

Die schizoaffektiven Störungen wurden in der ICD letztlich der Gruppe der Schizophrenien, schizotypen und andere wahnhaften Störungen, also dem Kapitel F2 zugeteilt. Meines Erachtens gehören sie dort aus psychodynamischer Sicht auch hin.

 

In der hier vertretenen Konzeption besteht das schizoaffektive Dilemma im Kern ebenfalls in der Furcht vor einer Selbstfragmentierung. Die diesbezügliche Vulnerabilität erscheint aber geringer als bei schizophrenen Patienten, vor allem scheint die Wahnbildung nicht der einzig wirksame

Abwehrmechanismus zu sein.

Die psychische Struktur ist insgesamt stabiler und tragfähiger, so dass nicht immer ganz so radikale Formationen und Parakonstruktionen der drohenden Fragmentierung entgegengestellt werden müssen.

 

Diesen Patienten scheint neben der produktiv-wahnhaften Parakonstruktion noch eine andere Abwehrkonstellation zur Verfügung zu stehen, welche wenigstens partiell und phasenweise ein Abdriften in eine schizophrene Symptomatik bremsen oder verhindern zu können scheint:

 

Die Hypothese wäre, dass es sich bei diesem Abwehrmechanismus um die Affektproduktion handeln könnte.

 

Insbesondere die manische Gestimmtheit kann wahrscheinlich in einem erheblichen Ausmass zur Aufrechterhaltung eines einigermassen kohärenten Selbst beitragen.

 

Es stellt sich natürlich die Frage, wie man sich vorstellen könnte, auf welche Art und Weise die hier postulierte Schutzfunktion der Affektproduktion gegen psychotischen Zerfall wirksam sein könnte:

 

Zum einen scheint mir denkbar, dass eine Vereindeutigung auf der Affektebene und damit die Reduzierung von Ambivalenzen im psychischen System zu einer Spannungsreduktion führt, welche der Fragmentierung und Auflösung entgegenwirkt.

So gesehen dient also sogar das Manische letztlich paradoxerweise der psychischen Beruhigung, da es die Dinge vereinfacht.

 

Auf der anderen Seite sind affektive Kräfte immer im Grunde beziehungsorientierte Bewegungen, vielleicht ist auch das bei diesen Patienten bis zu einem gewissen Grad kohäsionsfördernd. Zumindest ist die Affektproduktion immer auch eine Beziehungsregulation. Sowohl der depressive Rückzug, als auch die megalomane Positionierung haben einen direkten Impact auf jegliche Beziehung und kontrollieren diese auch. Möglicherweise reicht schon das manchmal aus, eine drohende Fragmentierung zu verhindern, die ja vor allem bei tieferen und intensiveren Begegnungen besonders droht.  Bei schizophrenen Menschen scheint dies auf diese Art jedenfalls nicht mehr zu funktionieren.

 

Von einem strukturellen Standpunkt aus gesehen, könnte man im Feld von sogenannt gut integriert -also neurotisch- bis zu desintegriert-also psychotisch im engeren Sinn die affektiven Störungen folgendermassen aufteilen:

Auf hohem Strukturniveau-also mit ausdifferenzierter Trennung von Selbst- und Objektrepräsentanzen- wäre die Trauerreaktion anzusiedeln. Der Objektverlust bleibt ein Verlust in der äusserlichen Welt und lässt den Selbstwert im wesentlichen untangiert.

Bei weniger ausdifferenzierter Trennung von Selbst-und Objektrepräsentanzen, das kann auch eine  passagere Unschärfe sein, wäre die Gefahr einer affektiven Erkrankung im eigentlichen Sinne gegeben, die somit auf der Ebene der Selbstwerthomöostase anzusiedeln ist.

Bei schizoaffektiv Erkrankten, ist die primäre Bedrohung bereits auf der Ebene der Selbstfragmentierung zu sehen und die affektiven Symptome sind primär als Abwehrformationen aufzufassen, während  schizophrenen Patienten diese Möglichkeit nicht mehr zur Verfügung steht.

 

So gesehen können wir nun doch noch mal zur Frage kommen, was denn nun affektive Psychosen  genau sind, resp. was unter dem Begriff sinnvollerweise zusmmengefasst werden könnte, wenn man ihn denn doch wieder verwenden will: es sind unipolare und bipolare Störungen, die dort hin gehören. Psychosen in dem weitgefassten Sinn, dass es um strukturelle Probleme geht. Die schizoaffektive Störung hat eine völlig andere Dynamik und ist im Kern eigentlich  keine Affektstörung. Die Trauerreaktion (Anpassungsstörung nach ICD) ist in dieser Logik zwar etwas Affektives, aber so gesehen keine psychische Erkrankung, jedenfalls ganz sicher keine Psychose, auch nicht im allerweitesten Sinn.

 

Wenn man annimmt.  dass die Affektproduktion, vor allem die maniforme Auslenkung, ein wichtiges Schutzsystem bei diesen Patienten vor dem drohenden Selbstverlust darstellt, könnte man überlegen, ob das in irgendeiner Form therapeutisch nutzbar sein könnte.

Natürlich kann es nicht darum gehen die Patienten in die Manie oder Depression zu treiben, um sie evtl. vor einer drohenden Selbstfragmentierung zu schützen. Ich stelle mir aber die Frage, ob nicht evtl. die Kunsttherapie etwas in diese Richtung in einer tragbaren Art und Weise beitragen könnte.  Das manische und das Kreative erscheinen mir jedenfalls eine gewisse Verwandtschaft zu haben, dort könnte evtl. etwas zu holen sein.

 

Ich denke in der psychotherapeutischen Begleitung von Menschen in schizoaffektiven Krisen, ist es förderlich die Affekte bis zu einem Grad mitzugehen und auch willkommen zu heissen, resp. zumindest in Erwägung zu ziehen, dass diesen evtl. auch ein stabilisierender Effekt zukommen könnte.

 

Natürlich gilt es auch die depressive Auslenkung in diesem Sinne zu würdigen. Es ist wie schon gesagt einleuchtend, dass ein depressiver Rückzug bei einem schizoaffektiv Erkrankten eine Möglichkeit ist, ihn vor Desintegration zu bewahren, die evtl. in seiner aktuellen Verfassung drohen könnte, wenn er sich zu sehr in eine aktive Beziehungskonstellation begibt, da er aktuell in einem zu labilen Zustand dafür ist. Auch das wäre ein Beispiel dafür, wie Affektproduktion eine Schutzwirkung darstellt, die nicht einfach unreflektiert durchbrochen werden sollte, in dem man zum Beispiel den Patienten zu Begegnungen oder Gemeinsamkeit drängt und forciert.

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